Das Abstrakte

Die künstlerische Abstraktion meint weniger die Loslösung vom Gegenständlichen als vielmehr die vom geistig am Ding Verhafteten. Eine figürliche Darstellung kann eine transzendente Bedeutung haben, ebenso wie eine gegenstandsfreie im Dinglichen verhaftete sein kann. Geht eine Darstellung über die dingliche Ebene nicht hinaus, ist ihre Zielrichtung nicht die Anregung zur Transzendenz und damit auch nicht die künstlerische Kommunikation, sondern ein Verharren an einem selbst gewählten mentalen Punkt.

Um das Dingliche ins Abstrakte verlassen zu können, müssen die Produzierenden das Dingliche zunächst beherrschen. Sonst entsteht im werk- ebenso wie im bedeutungs- gebenden Prozess keine Abstraktion, da es sich nicht um eine Loslösung vom Dinglichen handelt, sondern um ein Verharren im noch nicht Dinglichen.

In der romantischen Epoche herrschte die Ansicht, dass sich ein Subjekt auf seinem Reifeweg von seinem Ausgangspunkt fortbewegt und nach einer spiralförmigen Entwicklung durch Erfahrungen auf höherer Verständnisebene zu ihm zurückkehrt. Hierbei ist nicht der Ausgangspunkt das Ziel, sondern die höheren Ebene, die im Verharren am Ausgangspunkt nicht erreicht worden wäre.
In der Entwicklung des Dinglichen und Abstrakten wird die Ausgangsposition etwa von einem Kind gebildet, welches aus Unvermögen Nichtfigürliches darstellt, aber nicht abstrahiert, z.B. Krakelgebilde, und später Konkretes abzubilden lernt, z.B. Haus-mit-Sonne-Bilder. Erst im Laufe einer künstlerischen Entwicklung nach eigenem Maße kann sich ein Mensch in die künstlerische Abstraktion begeben.

Wenn die Werkproduzierenden die Abstraktion nicht beherrschen, vermag das Werk dennoch, allein durch den bedeutungsgebenden Prozess zu Transzendenz zu verhelfen, wenn die Abstraktion dort beherrscht wird. Die Werkproduzierenden sind in diesem Fall nur nicht in der Lage, durch Bedeutungsgebung für das eigene Werk im selben Maße wie andere an der transzendenten Kommunikation teilzuhaben, da sie den Ausgangspunkt (noch) nicht verlassen haben. Ein Werk wird dadurch nicht unecht, nur schwerer zielführend. Andererseits ist die Transzendenzfindung im Falle einer von Werkproduzierenden gelungenen Abstraktion und sie nicht beherrschender Bedeutungsgebender für Letztere nicht möglich.

 
M. D. Schuster,

nach einer Anregung von Vera Lossau